Büro mit Baustrahler und andere Katastrophen

14.10.2024 | AgileUS-AUSflug

Der Community-Ausflug führte uns im Sommer 2024 zum „Ground Zero“ der Universitätsbibliothek Stuttgart.

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Stell dir vor, du kommst zur Arbeit und hast keinen Strom. Den Beschäftigten der Universitätsbibliothek Stuttgart ging das im Spätsommer vergangenen Jahres so. Ein Schmorbrand hatte einige Kabel gefressen und gezeigt, wie brandgefährlich das gesamte Netz war. In der Folge wurden fast alle Stromleitungen aus Sicherheitsgründen abgeschaltet und, wo es ging, provisorisch Kabel verlegt. Bis heute dürfen wegen dieser wackeligen Lösung nicht alle Büros voll besetzt werden und sind die Lesesäle mangels Beleuchtung für die Öffentlichkeit gesperrt. Das wollten wir uns genauer ansehen.

Stromleitungen an der Decke im Foyer

„Sie wollen also eine Ground-Zero-Führung“, fragte Dr. Markus Malo, als wir im Blick auf eine mögliche Besichtigung der Universitätsbibliothek (UB) telefonierten. Unter dem Titel „Erlebbares Worst-Case-Szenario“ stellten wir den AgileUS-AUSflug zur UB in den Kalender. Mit seinem unverwechselbaren Galgenhumor und viel Geduld für interessierte Nachfragen führt Malo, stellvertretender UB-Direktor, diesen Sommer schließlich Teilnehmende aus unserer AgileUS-Community durch die Bibliothek.

Ein modernes Gebäude aus den 1960ern

Als Zuständiger für die baulichen Angelegenheiten kann er uns die historischen Hintergründe des UB-Gebäudes, die damaligen technischen Errungenschaften und den gegenwärtigen Betrieb des Wissenszentrums der Uni unterhaltsam näherbringen. Zum anderen zeigt er uns Katastrophentouristen mögliche Ursachenketten von Problemen auf und skizziert Szenarien für die Zukunft.

Eine Neuerung unter den Bibliotheksgebäuden war der Hauptbau am Stadtgarten mit der Eröffnung 1961: optimiert auf die damaligen Abläufe, die Leih- und Lesesäle hinter großen Glasfassaden, die Büros und Werkstätten für die Belegschaft mit Tageslicht zu einem großen Innenhof ausgerichtet. Auf steigende Nutzungszahlen hatte der Architekt Hans Volkart die öffentlichen Bereiche ausgerichtet und mit großzügigen, hellen Räumen und tragenden Säulen Transparenz geschaffen. Ein Rohrpostsystem sorgte für effiziente und schnelle Kommunikation in der prä-digitalen Zeit. Förderbänder durch nahezu alle Räume brachten Bücher aus den Magazinen binnen Minuten zur Ausgabe. Der Denkmalschutz zeichnet das Gebäude heute als Baudenkmal aus.

Anforderungen aus fortschreitender Digitalisierung wurden über die folgenden Jahrzehnte, wie in öffentlichen Einrichtungen oft der Fall, stets stückweise umgesetzt. Stromleitungen schlossen an Stromleitungen an, versorgten Zentralcomputer und später Arbeitsplatz-PCs mit Energie. Auf Dauer fehlte ein Gesamtkonzept. Sanierungen stauten sich immer mehr an.

Eine Chronik der Katastrophen

Hätte der diensthabende Wachmann den Schmorbrand im Sicherungskasten am späten Abend nicht bemerkt, wäre im August 2023 wahrscheinlich noch mehr passiert. Seit das Netz abgeschaltet ist, stehen die Jalousien fest, sind die Lernplätze in den Lesesälen gekappt, bleiben die Lampen über den unzähligen Regalen dunkel. Das Magazin im Untergeschoss betreten Beschäftigte mit Stirnlampen. Für den Ausleihbetrieb wurden die Corona-Konzepte herangezogen. Büros haben Baustrahler. Der offene Empfangsbereich ist nun ein Saal voller Lernplätze, sichtbare Kabel versorgen die Tische mit Strom.

Die Ausflugsgruppe im Monographie-Raum

Es klingt wie eine Chronik der Katastrophen, als Markus Malo beginnt zu erzählen, was in den vergangenen Jahren mangels Sanierung zusätzlich immer wieder den normalen Bibliotheksbetrieb unterbrochen hatte: Wasserschäden, Asbestsanierungen, Ratten durch die Kanalisation, nicht ausreichende Belüftung, herabstürzende Gipsdecken...

Was jetzt hier ein paar Sätze erzählen, erschließt sich uns Besuchenden vor Ort in kurzweiligen Anekdoten, an den Werkstätten und Büros oder an sichtbaren Schäden bzw. Provisorien. Markus Malo erläutert beim Rundgang Stück für Stück die Funktionsweise der UB, die anfallenden Aufgaben, die Workarounds für den Betrieb ohne Strom und was baulich geplant ist.

Baustrahler im Büro

Unser Rundgang führt uns aus der großen Eingangshalle – imposant tummeln sich die orangen Kabelstränge an der Decke und die provisorischen Lernplätze – direkt nach rechts. Dort ist der teilöffentliche Bereich mit Veranstaltungsräumen. Es schließt sich, nach links abbiegend, ein Bürotrakt an: Dort kommen neue Bücher direkt zur Aufnahme in den Katalog an, das Monographie-Team erfasst alle wichtigen Daten fürs spätere Wiederauffinden. Anschaulich sind hier die Baustrahler neben den Arbeitsplätzen, die im Winter für Licht sorgen.

Markus Malo und der Baustrahler

Am Ende des Korridors biegen wir wieder nach links ab. Einen Blick in den Innenhof bieten die Fenster: Wie eine grüne Insel ruht der kleine japanische Garten zwischen den Glasfassaden. Eine großzügige Küche für die Beschäftigten – hier gab es die Alternative, ob der Strom für Warmwasser oder eine Spülmaschine genutzt werden sollte – liegt links des Nordflurs. Zur Rechten betreten wir die Buchbinderei. Die Leiterin Gudrun Storz zeigt uns die beeindruckenden Buchbindeapparate – der älteste ist über sechzig Jahre alt und noch im Betrieb. Sie erläutert geduldig, wann ein Buch bei ihr auf den Tischen landet. Um den Leim von den Händen waschen zu können, hat ihre Werkstatt auch als einzige Stelle des Gebäudes Warmwasser.

Wasserleitungen durchs Magazin

Einen Stock tiefer führt uns das Treppenhaus ins Magazin, dem weit größeren Bestand von Büchern im Vergleich zum Lesesaal. Ohne Innenhof und Fenster ist es im Keller recht dunkel. Nur die Notbeleuchtung kennzeichnet die Korridore zwischen den manuell verstellbaren Regalreihen. Um ein Buch zu finden, brauchen die Mitarbeitenden Stirnlampen. An der Decke hängen selbstbewusst in metallischem Glanz die Bahnen des Buchtransportsystems. Ausnahmsweise ist nicht der Strom schuld, dass sie funktionslos sind. Der technische Fortschritt sorgte dafür, dass es keine Ersatzteile mehr gibt. So reisen die Bücher also mit Handkarren und Aufzügen quer durchs Haus.

Hängen ebenfalls an der Decke: Abwasserrohre der Sanitäranlagen, Meisterwerke der Rohrbaukunst von 1961. Sie bieten einen feuchten Kontrast zu den trockenheitsliebenden Kubikmetern von Büchern unter ihnen und wurden nur erneuert, wenn offensichtliche Undichtigkeiten den Bestand zu schädigen drohten. Als ein weiteres Highlight schließt unser Reiseführer den dunklen Tresorraum auf. Im Taschenlampenschein zeigen sich uns handgeschriebene Folianten, alte Drucke, kolorierte Stiche und Manuskripte. Vor unseren Augen erwachen die frühen Zeiten des einstigen Polytechnikums zum Leben. Unvorstellbar, dass sich auch direkt über diesen Schätzen unverkleidete Wasserrohre an der Decke entlang hangeln.

Lesesaal ohne Publikum

Zwei Etagen höher betreten wir eine der wenigen Stellen, in denen der Strom noch aus der Wand und das Licht noch aus der Decke kommt. 2018 hatte die Bibliothek hinter dem Freihandbereich in einem vormaligen Zeitschriftenmagazin einen bestausgerüsteten Raum für Gruppenarbeitsplätze eingerichtet. Netzwerkanschlüsse, Tischsteckdosen, smarte Beleuchtung hängen an separaten Sicherungen. Darum laufen sie noch und versorgen nun Ausweicharbeitsplätze für Büros ohne Strom.

Die architektonische Genialität aus den 1960er Jahren erschließt sich uns im Freihandbereich. Hohe Decken und die gläserne Fassade ermöglichen bei Tag auch ohne Kunstlicht gute Orientierung. Weil der Tag aber begrenzt ist und manche Wolken auch im Sommer die Welt verfinstern, darf ohne Kunstlicht kein Publikum in die Lesesäle und die Lernplätze. Im Ausleihbereich sehen wir schließlich, dass ein Corona-Konzept nicht nur unter pandemischen Bedingungen die Versorgung der Universität mit Büchern und Wissen aufrechterhält.

Fünf vor Zwölf

Wie es weitergehen wird, skizziert Markus Malo zum Abschluss unter einer der vielen stehengebliebenen Uhren, von denen manche bezeichnenderweise Fünf vor Zwölf zeigen: Irgendwann im ersten Quartal 2025 muss die UB für den Publikumsverkehr eine andere Lösung finden. Die Brandschutzbestimmungen für öffentliche Gebäude werden verschärft, die anstehenden Sanierungsmaßnahmen sind auch für Laien offensichtlich.

Vielleicht folgt in Zukunft ja auf einen Katastrophentourismus ein Baustellentourismus?

Für die unterhaltsame, interessante und kurzweile Führung danken wir herzlich Dr. Markus Malo!

Was haben wir gelernt?

  • Ohne Strom zu arbeiten ist möglich, aber schwierig.
  • Schnelles Reagieren hilft dabei, größere Katastrophen zu verhindern.
  • Äußere Einflüsse zwingen zu Flexibilität und kreativen Lösungen.
  • Ein Notfallkonzept in der Schublade erhält Einrichtungen handlungsfähig.
  • Die einfachsten Lösungen sind bei Sicherheitsaspekten nicht immer die tragfähigsten.
  • Sanierungsstau: Werden notwendige Problemlösungen herausgezögert, überrennen einen die größeren Probleme.

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Ulrich Fries

 

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